Blickpunkt EZB: Der Pfad nach Juni

Alles andere als eine Zinssenkung auf der Juni-Sitzung der EZB wäre eine große Überraschung. Angesichts der Tatsache, wie gut die EZB die Märkte und Analysten auf ihren Kurswechsel vorbereitet hat, ist es nur logisch, dass sich die meiste Aufmerksamkeit bereits auf die Frage konzentriert: Wie geht es weiter? Die Mitglieder des EZB-Rats haben bisher eifrig betont, dass der Pfad nach Juni ungewiss ist. Es ist aber bekannt, dass die EZB datengetrieben agieren wird. Wir versuchen etwas Licht ins Dunkel zu bringen und skizzieren Szenarien für den künftigen Pfad der EZB. Nach wie vor erachten wir es für das wahrscheinlichste Szenario, dass die EZB einen vorsichtigen vierteljährlichen Zinssenkungszyklus einschlagen wird.

Gewissheit für Juni, Ungewissheit danach
Quelle: LSEG, RBI/Raiffeisen Research

Auf seiner letzten geldpolitischen Sitzung Anfang April kam der EZB-Rat zu der Einschätzung, dass eine Zinssenkung angemessen wäre, wenn das Vertrauen in die Erreichung des Inflationsziels weiter zunimmt. Seitdem haben wir das BIP des ersten Quartals, Inflationsdaten für zwei Monate und Informationen über das Lohnwachstum erhalten. Das BIP-Wachstum wurde über den Erwartungen veröffentlicht. Die EZB rechnete für Q1'24 mit einem Wachstum von 0,1 % gegenüber dem Vorquartal, während die erste (nicht endgültige) Veröffentlichung eine Wachstumsrate von 0,3 % ausweist. Die Inflationsdaten waren uneinheitlich. Während die Inflation im April im Einklang mit den Erwartungen veröffentlicht wurde, lag die Inflation im Mai über den Erwartungen, insbesondere die Kerninflation bei den Dienstleistungspreisen. Während die Mai-Inflation als Rückschlag angesehen werden kann, hat die Gesamtheit der Daten das Vertrauen der EZB dennoch gestärkt, und die Leitzinsen werden diese Woche gesenkt werden, wie viele EZB-Ratsmitglieder bei öffentlichen Auftritten erklärt haben. Die Änderung der Geldpolitik dürfte sich auf den Finanzmärkten bereits gut widerspiegeln und daher nicht überraschend kommen. So weit, so gut.

Das Hauptaugenmerk wird fast ausschließlich darauf gerichtet sein, ob die EZB irgendwelche Signale über den künftigen Zinspfad gibt. Klar scheint zu sein, dass sich die EZB weiterhin für einen datengetriebenen Ansatz entscheiden wird, um volle Flexibilität zu gewährleisten. Die EZB wird ihre derzeitige Präferenz beibehalten, Entscheidungen auf der Grundlage der eingehenden Daten und der sich entwickelnden Aussichten von Sitzung zu Sitzung zu treffen. Dies ist nichts Besonderes, da die Zentralbanken auch in der Vergangenheit auf Veränderungen der Datenlage reagiert haben. Die Formulierung eines indikativen Leitzinspfads, der von den Wirtschaftsaussichten der EZB abhängt, würde die Unsicherheit verringern und die EZB gleichzeitig nicht an einen bestimmten Pfad binden. Der vierteljährliche Leitzinsausblick des FOMC als Teil der Zusammenfassung der Wirtschaftsprognosen dient etwa diesem Zweck.

Kerninflations-Momentum aufgrund von Dienstleistungspreisen erhöht
Quelle: LSEG, RBI/Raiffeisen Research

Szenario 1: Das Basisszenario tritt ein

Unsere und auch die Inflationsprognose der EZB gehen von einer begrenzten Disinflation für den Rest des Jahres 2024 aus. Die zugrundeliegende Inflationsdynamik lässt nur allmählich nach und bleibt höher, als es mit dem Inflationsziel vereinbar wäre. Hinter diesem Muster der Kerninflation verbirgt sich eine Inflationspersistenz bei den Preisen für Kerndienstleistungen, die hauptsächlich auf ein nur allmählich nachlassendes Lohnwachstum zurückzuführen ist. Im Laufe des Jahres 2025 wird sich das Preiswachstum wieder dem Ziel nähern. Gegenwärtig halten wir dies für den wahrscheinlichsten Inflationspfad. Für die Geldpolitik halten wir die Inflationsdynamik des Jahres 2024 für vereinbar mit einem schrittweisen Vorgehen der EZB. Unter schrittweisem Vorgehen verstehen wir, dass die EZB die Leitzinsen vierteljährlich um 25 Basispunkte auf der Grundlage neuer Wirtschaftsprognosen senkt, um zu prüfen, ob sich die Annahmen bewahrheitet haben. Eine sich weitgehend seitwärts bewegende Inflation wird der EZB weniger Signale für eine Anpassung der Geldpolitik liefern als in den vergangenen zwei Jahren. Da die Inflation unter 3 % gesunken ist, wird sich die EZB jedoch in der Lage sehen, einige der von ihr auferlegten geldpolitischen Restriktion zu lockern. Und die Daten zeigen deutlich, dass sich die Geldpolitik der EZB in einem restriktiven Bereich befindet, warum also nach einer Zinssenkung um 25 Basispunkte im Juni aufhören?

Invertierte reale Zinskurve signalisiert restriktive Geldpolitik
Reale Rendite = OIS - ILS
Quelle: LSEG, RBI/Raiffeisen Research

Szenario 2: Aufwärtsgerichtete Inflationsrisiken treten ein

Dies bringt uns zu Szenario 2. Die EZB beendet ihren schrittweisen, geduldigen und datengetriebenen Kurs - wie in Szenario 1 skizziert -, wenn sich die Inflationsrisiken nach oben verlagern. Es ist zu beachten, dass die Inflationsrisiken derzeit eher nach oben gerichtet sind. Die Geopolitik ist ein naheliegender Grund dafür, aber auch die Inflationspersistenz, wie sie im Mai zu beobachten war, könnte die Ursache dafür sein. Sollte die Inflationsdynamik auf dem derzeitigen Niveau bleiben, würde sich die Kerninflation zunächst seitwärts bei knapp unter 3 % bewegen, um dann in den letzten Monaten des Jahres über 3 % zu steigen. Sollte die Inflationsdynamik nicht nachlassen, könnte die Kerninflation das Jahr 2024 über ihrem Ausgangsniveau beenden. Ein Risiko in dieser Richtung ist die Unsicherheit über das Ausmaß der Spillover-Effekte des erhöhten Lohnwachstums auf die Dienstleistungspreise. In diesem Szenario könnten die Zinssenkungen auf Eis gelegt werden, um eine Lockerung der Finanzierungsbedingungen zu vermeiden. Auf diese Weise würde sich die disinflationäre Wirkung der restriktiven Geldpolitik verlängern. Diese abwartende Haltung könnte nicht nur dadurch ausgelöst werden, dass die Dynamik der Kerninflation bei den Dienstleistungen nicht nachlässt. Ein Energiepreisschock, der durch das Eintreten geopolitischer Risiken ausgelöst wird, birgt genügend Inflationspotenzial, um den EZB-Konsens in Richtung „Hoch-für-Länger“ zu verschieben.

Energiepreisschock hat Potential sich auf Inflationserwartungen auszuwirken
Quelle: LSEG, RBI/Raiffeisen Research

Szenario 3: Es kracht

Auch wenn ein Szenario mit einer hohen Inflationsrate - wie Szenario 2 - die wahrscheinlichere Alternative zum Basisszenario ist, kann man auch über Bedingungen nachdenken, unter denen die EZB die Zinssätze schneller senken muss. Einerseits könnte es bei jeder Sitzung zu Zinssenkungen kommen, wenn sich die Disinflation als ausgeprägter erweist als derzeit von der EZB erwartet - das Inflationsziel von 2 % wird in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 statt im Jahr 2025 erreicht. Eine schwächere (globale) Nachfrage aufgrund einer verzögerten Übertragung der (übermäßig) restriktiven Geldpolitik könnte eine Ursache sein. Andererseits könnte es auch zu einem noch schnelleren Zinssenkungszyklus kommen, wenn sich in der Wirtschaft bzw. im Finanzsektor eine tiefere Krise abzeichnet. Zinssenkungen sind nicht die erste Verteidigungslinie, wenn Finanzmarktstabilitätsrisiken eintreten, da liquiditätszuführende Maßnahmen eingesetzt werden, um die Situation beruhigen. Sollten sich jedoch die Finanzierungsbedingungen für die Gesamtwirtschaft über das aus geldpolitischer Sicht wünschenswerte Maß hinaus verschärfen, könnten Zinssenkungen durchaus spruchreif werden. Schließlich wurden die meisten Zinssenkungen als Reaktion auf eine Wirtschafts- bzw. Finanzkrise vorgenommen und nicht als Normalisierung auf ein neutrale Niveau. Da Krisen bekanntermaßen schwer vorherzusagen sind, ist es bestenfalls schwierig, einen schnellen Zinssenkungszyklus zu planen. Außerdem gibt es derzeit keine Anzeichen für eine unmittelbar bevorstehende Krise. Daher halten wir und die Märkte die Ex-ante-Wahrscheinlichkeit von Szenario drei für geringer als die von Alternative zwei.

Wird es diesmal anders? Historisch folgten Zinssenkungszyklen Krisen
Quelle: LSEG, RBI/Raiffeisen Research

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Franz ZOBL

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Franz ist seit 2020 im Team Economics, Rates, FX bei Raiffeisen Research tätig und beschäftigt sich federführend mit US-Geldpolitik, Benchmark Renditen und EUR/USD. Als Volkswirt blickt er auf einige Jahre Berufserfahrung im Finanzsektor zurück. Er hält einen PhD von der London School of Economics und hat an der Wirtschaftsuniversität Wien, der Universität Wien sowie der Universität Tilburg studiert. Er ist Autor wissenschaftlicher Artikel im Bereich der Makroökonomie und hegt eine Leidenschaft für Wirtschaftsgeschichte.